«RCE - #RemoteCodeExecution» heisst Sibylle Bergs neuer Roman. Er ist der zweite Teil einer Trilogie und setzt die Geschichte von «GRM» fort, die von einer Gruppe von Jugendlichen aus Manchester erzählt, die gegen den «Brainfuck» der heutigen Welt rebellieren. Gegen eine Welt, in der Algorithmen die Menschen ersetzen, die Jungen wie Junkies alle 10 Minuten ihren Instagram-Account checken und das Leben langweiliger als das virtuelle Leben geworden ist.
Solche fast schon harmlos anmutenden Zeiten aus «GRM» sind nun in «RCE» definitiv vorbei. Denn die Zukunft, die hier geschildert wird, ist eine hoffnungslose geworden. Klimawandel und Digitalisierung haben die Menschheit an den Rand des Abgrundes gebracht. Städte sind verwaist. Es gibt keine Geschäfte mehr, keine Bettler, keine Dealer, keine Proteste, kein Schmutz. London ist ein poliertes kapitalistisches Uhrwerk geworden, fast zur Gänze privatisiert und bis in den letzten Winkel digitalisiert.
Alle arbeiten in der IT-Branche. Der Mittelstand ist verarmt. Wegen explodierender Hypothekarzinsen sehen sich die Wohneigentümer gezwungen ihren Besitz an die Banken und an Reiche zu veräussern. Der Durchschnittsbürger muss sich mit vier Quadratmetern begnügen. Geschlafen wird nur noch in Schlafkojen, gearbeitet in Open-Work-Spaces. Wer blauäugig meint, durch persönlichen Verzicht den Klimawandel aufzuhalten, ist einer Mär aufgesessen. Einzig die neofeudalen Tech-Riesen könnten als Globalplayer noch das Steuer herumreissen. Doch diese wollen nicht auf ihre Gewinnmaximierung verzichten. Denn Datenkontrolle ist Geld, und Geld ist Macht. Und solange dieses neokapitalistische System irgendwie funktioniert, wird es bis zur Apokalypse fortgeführt.
Und genau da setzt nun Sibylle Bergs Geschichte ein. Aus den jugendlichen Computer-Nerds aus «GRM» sind erwachsene IT-Spezialisten und Hacker geworden. Wiedervereint wollen sie dem Kapitalismus – den Banken, Tech-Riesen und unermesslich Reichen – mit gut ausgeführten «Remote Code Executions» den Stecker ziehen und einen Neustart erzwingen. Denn «RCE» ermöglichen es aus der Ferne in ein System einzudringen, bösartige Software auszuführen, die Systeme lahmzulegen oder komplett zu übernehmen.
Daumen rauf
- Progressiv. «RCE» ist im fortgeschrittenen Jahrtausend angelegt. Sibylle Bergs Zukunftsvision ist zwar düster, doch zieht die Autorin nachvollziehbare Schlüsse.
- Zeitkritisch. Sibylle Berg setzt dieses Gefühl der Ohnmacht und Überforderung des Einzelnen, die eine durchdigitalisierte Welt mit sich bringt, formal gekonnt um.
- Informativ. Die Informations- und Datenflut, die Sibylle Berg in ihrem Roman verarbeitet, ist enorm. Alleine das ist eine grosse Leistung. Doch leider müsste ich eine künstliche Intelligenz sein, um das verarbeiten zu können.
Daumen runter
- Kein Sprachklang. Auf den ersten 100 Seiten knüpft Sibylle Berg mit ihrem einzigartigen Sound an das Vorgängerbuch «GRM» an. Doch dann zerfällt der Text mehr und mehr.
- Berg bildet die nahe Zukunft mittels einer Daten- und Informationsflut ab, die unübersichtlich, masslos und komplex ist. Fakten aus der Finanz- und Wirtschaftswelt werden aneinandergereiht. Das macht den Text hölzern und bremst den Lesefluss aus.
- Uninspiriert. Thematisch erzählt mir Sibylle Berg nichts Neues. Ähnliches habe ich schon an anderen Orten gelesen. Auch frage ich mich was die Autorin mit ihrem Text will: empören, etwas anstossen? Beides funktioniert für mich nicht.
Die Autorin
Sibylle Berg lebt in Zürich. Sie erhielt diverse Preise und Auszeichnungen, u.a. den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor, den Nestroy-Preis, den Schweizer Buchpreis, den Grand Prix Literatur und den Bertolt-Brecht-Preis.
Das Buch: Sibylle Berg: «RCE» (Kiepenheuer & Witsch, 2022)
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