Meinrad Inglin zählt zu den bedeutendsten Schweizer Autoren des 20. Jahrhundert. Gleichwohl kennen viele sein Werk nicht. Mit dem neuen Erzählband «Schneesturm im Hochsommer» ändert sich das bestimmt! Darin findet ihr die Novelle «Die Lawine» und andere klirrend kalte Geschichten von Meister Inglin.
Erstklassig die Novelle «Die Lawine». Schauplatz ist eine verminte Brücke in den Schweizer Bergen während des 2. Weltkrieges. Ein Soldat hält aufmerksam Wache, um vor feindlichen Truppen warnen zu können. Er ahnt nicht, dass eine weit gefährlichere Naturgewalt droht. Eine fesselnde Erzählung, die Kriegsbedrohung mit archaischer Bergwelt verbindet und deren Happy End die Schweizer Ursituation des Davonkommens verkörpert.
Oder dann ganz stark die Erzählung «Drei Männer im Schneesturm». Da muss einer über das Leben seiner beiden Kameraden entscheiden, welchen er vor dem Kältetod retten soll und welchen nicht. Und das, nachdem sie auf einer Bergtour ein Schneesturm überrascht, sie die Orientierung verlieren und beim Abstieg verunglücken. Meinrad Inglin beschreibt diesen Ausnahmezustand so plastisch, dass es einem friert. Das Motiv des Sterbens im Schnee hat aber nicht Inglin erfunden. Es zieht sich seit dem 19. Jahrhundert bis heute durch die Schweizer Literatur. Ein Beispiel der jüngeren Zeit ist Peter Stamms «Agnes», eine junge Frau, die im Schnee an der Kälte ihres Freundes zugrunde geht.
Daumen rauf
- Sinnlich. Inglin schreibt in einer sinnlichen, präzisen Sprache, die klare Verhältnisse schafft - zwischen den Figuren, zwischen Menschen und Naturgewalt.
- Eindrücklich. Inglin liebt die Natur. Er beschreibt die Schweizer Bergwelt so plastisch, dass ich – wie Heidi in der Grossstadt – Heimweh bekomme.
- Schweizerisch. Inglins Helden handeln pragmatisch und schlagen nie über die Stränge. Darin erkenne ich eine schweizerische Tugend: einen Konflikt nicht auf die Spitze treiben und rechtzeitig einen Kompromiss suchen. Und genau da wird die Lektüre interessant: weil ich mich als Schweizerin identifizieren kann.
- Humorvoll & klug. Inglins Erzählungen zeichnen sich durch leisen Humor und Lebenspraxis aus. Schön zu sehen in der Erzählung «Der Lebhag». Da warnt ein alter Bauer seinen Sohn, den grünen Lebhag nicht auszureissen. Doch der Junge weiss es besser. Der Lebhag wird mit Drahtzaun ersetzt. Nun bleiben Vögel fort. Schädlinge, Kartoffelkäfer, Blattschaben, Schnaken, Raupen und Larven gedeihen ungehindert und die Ernte wird jedes Jahr schlechter.
- Inglin ist ein Chronist seiner Zeit. Seine politische Wahrnehmung lässt Brücken zur Gegenwart schlagen. Daher müsst ihr unbedingt auch Inglins Klassiker «Schweizerspiegel» lesen. Die eindrückliche Familiengeschichte einer Zürcher Unternehmerfamilie, die die Auswirkungen des 1. Weltkriegs schmerzhaft zu spüren bekommt. Die Spannungen und ideologischen Grabenkämpfe, die das Land zu spalten drohen. Den Einfluss der Kriegsparteien, den Ausnahmezustand an der Grenze, die wirtschaftlichen Folgen. Unverwechselbar geschrieben von einem, der vieles miterlebt hat. Als Soldat und Offizier, als Journalist u.a. auch in Berlin.
Daumen runter
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Etwas antiquiert. Nicht alle Erzählungen gefallen mir gleich gut. Doch grundsätzlich geht es mir mit Erzählungen
wie mit Bildern. Gefallen mir drei in einer Sammlung gut, dann lohnt sich die Lektüre.
Der Autor
Meinrad Inglin (1893-1971) wurde mit siebzehn Jahren Vollweise. Nach Abbruch einer Uhrmacher- und Kellner-Ausbildung studiert er Literaturgeschichte und Psychologie in Genf und Neuenburg, arbeitete als Zeitungsredaktor und ab 1923 als freier Schriftsteller in Schwyz.
Das Buch: Meinrad Inglin: «Schneesturm im Hochsommer» (Limmat Verlag, 2021)
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