«Wo der Wolf lauert» von Ayelet Gundar-Goshen ist ein Thriller um Israelis in der Diaspora. Psychologisch gerissen lockt mich die Autorin ins Dickicht. Hält mich dort fest, bis mir langsam dämmert: da ist ein Wolf, der Hunger hat.
Silicon Valley, heute. Lilach und Michael Schuster sind vor einigen Jahren in die USA gezogen. Das Leben in ihrer Heimat Israel ist ihnen zu gefährlich geworden. Bei einem Angriff während der zweiten Intifada hatte Lilach eine Fehlgeburt erlitten. Das hat den Ausschlag für ihren Entscheid auszuwandern gegeben.
Ihre neue Heimat Kalifornien entpuppt sich als Paradies. Michael verdient gut. Er arbeitet fürs Pentagon und entwickelt geheime Waffensysteme. Lilach geniesst Haus und Garten. Hinter dem Grundstück liegt «eine ruhige, grüne Weite, die an eine ruhige, grüne Avenue reicht, in einer der ruhigsten, grünsten und sichersten Städte der Vereinigten Staaten von Amerika». Der ideale Ort also, um ihren Sohn Adam grosszuziehen.
Doch dann erschüttert ein antisemitischer Anschlag auf die Synagoge das Quartier. Und als kurz darauf ein schwarzer Junge auf einer Schulparty stirbt und Adam als Jude und Mörder verschrien wird, bricht für Lilach alle Sicherheit weg.
Daumen rauf
- Dieser Thriller ist eine Liga für sich. Er beginnt mit einem dieser unschlagbaren Sätze, die alles sagen, und doch nichts verraten, die mit einem Knall eine chemische Kettenreaktion auslösen, deren Ausgang ungewiss ist: «Ich sehe im Geist diese winzigen Fingerchen, die eines Neugeborenen, und versuche zu begreifen, wie sie zu den Fingern eines Mörders heranwachsen konnten.»
- Hochemotional. Ungefiltert bekomme ich die Gedanken einer Mutter mit, die nicht glauben kann, dass ihr Sohn ein Mörder ist: «Mein Junge heisst Adam Schuster. Seine Augen sind blau wie das Meer von Tel Aviv. Es heisst, er habe ihn umgebracht. Aber das stimmt nicht.»
- Doppelbödig. Hier gibt es keinen allwissenden Erzähler. Ich nehme vollständig die Perspektive der Ich-Erzählerin Lilach ein. Wie sie sammle ich Informationen, mutmasse, zweifle, hoffe und erkenne oder verwerfe ich Anzeichen, die Adam beschuldigen könnten. Doch nicht nur Adam ist schwer zu durchschauen. Und ich frage mich: warum bleiben einem eigentlich immer die Nächsten das grösste Rätsel?
- Gegenwärtig. Der Thriller thematisiert verschiedene aktuell geführte Debatten. Es geht um Identität, Radikalisierung, Terrorismus, Panikmache. Das Buch zeigt, wie Vorurteile rasch die Runde machen und sich kollektive Unsicherheit in einer Hetze entlädt. Oder wie aus einer wachsenden Bedrohungssituation heraus nationale Ideologien erstarken. So erwacht nach dem antisemitischen Anschlag auf die Synagoge auf einen Schlag Adams israelische Identität. Zuvor hat er sich kaum für diese interessiert. Er tritt einer Jugendmiliz bei, die von Uri, einem Israeli und ehemaligen Elitekämpfer, in Krav Maga trainiert wird. Uri gibt Adam Halt. Seine Fürsorge und Männlichkeit scheinen Adam erstrebenswertes Vorbild.
- Wertvoll. Ayelet Gundar-Goshen macht erzählerische Sprünge, greift vor und blendet zurück. Sie zeigt die Welt in ihrer Komplexität und lässt mich meine eigenen Schlüsse ziehen.
Daumen runter
- Etwas überspannt. Das Erzählen entlang von Schwarz-Weiss-Schablonen und die Anhäufung von problembeladenen Diskursen sind etwas ermüdend.
Die Autorin
Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982, studierte Psychologie in Tel Aviv, später Film und Drehbuch in Jerusalem. Ihren internationalen Durchbruch feierte sie mit ihrem zweiten Roman «Löwen wecken», der zurzeit als TV-Serie verfilmt wird. «Lügnerin», ihr dritter Roman, erschien 2017. Nachdem sie mit ihrer Familie einige Zeit in Kalifornien gewohnt hat, lebt die Autorin heute wieder in Tel Aviv.
Das Buch: Ayelet Gundar-Goshen: «Wo der Wolf lauert» (Kein & Aber, 2021)
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