Anna Burns «Milchmann» versetzt mich in Aufruhr. Er läuft mir nach. Wie eine Liebe, die man nicht will und von der man gleichwohl weiche Knie kriegt. Ein faszinierend widersprüchlicher Roman: anziehend, abstossend, lähmend, berauschend, rau, zärtlich, traurig, tröstend, hässlich, leuchtend, schön!
Belfast. Eine junge Frau, 18, liest im Gehen den Klassiker «Ivanhoe» und fällt dabei einem einflussreichen Paramilitär ins Auge. Dieser umwirbt sie, stalkt sie, lauert ihr auf. Sie gerät in Panik. Lässt ihn abblitzen. Doch keine Chance. Sie hat nicht das Rüstzeug, sich selbst zu helfen. Kennt keine Alternative, nur Wut, Trotz und lähmende Ohnmachtsgefühle. Im katholischen Quartier zirkulieren bereits Gerüchte. Sie sei ein Paramilitär-Groupie. Selbst «Mutter» und «Vielleicht-Freund» glauben das. Anna Burns erzählt die universelle Geschichte einer jungen Frau, die ihren eigenen Weg gehen will. Und das inmitten des Nordirland-Konflikts.
Daumen rauf
- Unkonventionell. Die Autorin schreibt völlig neuartig, mit einer ganz eigenen Erzähltechik. Sie erläutert nichts, ordnet nichts ein. «Milchmann» ist keine Geschichtslektion. Ich werde knallhart ins kalte Wasser geschmissen. Grund: Anna Burns geht es per se um ein Leben im Ausnahmezustand, egal wo!
- Originell. In diesem Roman gibt es keine herkömmlichen Namen. Die Figuren sind nach ihrem Beziehungsstatus zur Ich-Erzählerin benannt. Da ist zum Beispiel «Vielleicht-Freund»: ein Automechaniker, der Probleme kriegt, weil er sich den Kompressor eines Blower-Bentley angeschafft hat. Ein Verräterteil von «der anderen Seite der See». Da ist «Schwager Drei», der mit Burns Protagonistin gerne joggen geht. Oder «Schwester Drei», die mit ihren Freundinnen Saufgelage abhält und torkelnd über die Gartenhecke fällt. Oder dann «Irgendwer McIrgendwas», der Burns Protagonistin eine Waffe auf die Brust setzt, am Tag an dem der «Milchmann» stirbt und der «echte Milchmann» die Herzen aller Frauen gewinnt!
- Exzeptionell. Diese Milieustudie. Ich erhalte Einblick in eine «ausgesprochen verschlossene, klatschsüchtige, übertrieben prüde, aber zugleich unanständig totalitäre» Gemeinschaft im Belfast der 70er Jahre. Erkenne wie Gewalt, Gewalt generiert. Erkenne wie Denunziantentum und Propaganda funktionieren. Nerve mich wie Burns Protagonistin die Augen vor der politischen Wirklichkeit verschliesst, wie sie sich unterordnet und innerlich abstumpft. Hey girleen, wer nicht selbst entscheidet, über den wird entschieden. Damnaigh é!
Daumen runter
Anna Burns übertreibt es mit den Exkursen. Manche machen keinen Sinn. Die Folge: meine Aufmerksamkeit schlafft zwischenzeitlich ab. Der Gesamtwertung tut das allerdings keinen Abbruch.
Die Autorin
Anna Burns, geboren in Belfast, Nordirland, ist Autorin mehrerer Romane. 2018 erhielt sie für «Milchmann» den renommierten Man Booker Prize. Das Buch wurde zu einem internationalen Bestseller und mit zahlreichen weiteren Preisen ausgezeichnet. Anna Burns lebt heute in East Sussex, England.
Das Buch: Anna Burns: «Milchmann» (Tropen Verlag, 2020)
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